Komplex ist, was stirbt, wenn man es in Stücke schneidet. Nein, Komplexität ist kein Synonym für das Lebendige – aber Alles lebendige ist komplex. Lebendig ist auch die Liebe oder die Schönheit.
Sucht man nach Definitionen von Komplexität wird man kaum um den Begriff „System“ herumkommen. Systeme sind komplex, wenn deren Teile in vielfältiger Weise interagieren und zu nicht-linearen, manchmal zufälligen Verhaltensweisen führen. Es bilden sich kollektive Dynamiken, Hierarchien und emergente Eigenschaften – also solche, welche die Teile nicht selbst besitzen. So ist beispielsweise kein Wassermolekül nass oder flüssig.
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Noch viel interessanter als die Frage, was Komplexität ist, ist die Frage, wie damit umzugehen. Inmitten des Gewusels und Gewimmels der Komplexität des Lebens, findet sich ein Muster mit höchst sonderbaren Eigenschaften. Diesem Muster gehe ich hier nach.
Komplexität durchzieht unser ganzes Leben, wir merken es oft kaum. Unser Körper ist komplex, das Zusammenspiel all unserer Organe, Ernährung und Bewegung – Bewegung als Teil einer Handlung und diese immer in mehrschichtigen gesellschaftlichen Kontexten. Es fällt uns meist auf, wenn etwas nicht mehr „funktioniert“ oder, wenn wir Entscheidungen fällen – besonders dann, wenn etwas auf dem Spiel steht. Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke hat das Fundament unserer kognitiven Maschine – all jener zusammenhängender Prozesse, welche aktiviert werden, wollen wir eine wichtige Entscheidung treffen, auf den nicht reduzierbaren Prozess der „relevance-realization“ (also Relevanz-Realisation) hinuntergebrochen. Salopp übersetzt heisst das: wie ausgeklügelt auch immer unsere „Rechenmaschine“ ist, am Ende bleibt immer eine Abwägung von Werten, Wichtigkeiten. Faustregeln, Prinzipien oder Strategien helfen die Komplexität zu reduzieren – und doch ergibt all das Rechnen oft keine letzt-begründete, klare Antwort. Ist es beispielsweise genau in dieser Situation jetzt, wichtiger ehrlich oder freundlich zu sein? (ehrlich ist kaum immer die „richtige“ Antwort)
Und hier kommt das interessante Muster ins Spiel. Lassen sie mich dies etwas auslegen. Das Muster sehe ich in der Kampfkunst, bei der kreativen Arbeit, beim sogenannten Flow, der Mystik oder bei kollektiven Prozessen der Selbstorganisation – zumindest tritt es hier viel deutlicher zum Vorschein. (Es scheint mir auch beim Erinnern oft aufzutreten, beim Dating und wahrscheinlich noch viel öfter.)
Beginnen wir mit der Kampfkunst. Mein Meister praktiziert seit mehr als 50 Jahren. Als er das erste Mal von „Kreativität ohne Absicht“ gesprochen hat, habe ich ihn nicht verstanden. Aus seiner Sicht gibt es die freie Kombination von Techniken und echte Kreativität. Letztere besteht darin, einfach den Körper machen zu lassen. Lässt sich leicht sagen. Natürlich werden auch hier die ganzen erlernten Techniken zur Anwendung kommen – aber eben nicht absichtlich, sondern ohne Intention. Das „macht man“ indem man loslässt, atmet, entspannt (aber nicht zu viel) und dem Impuls folgt. Wir gaben auch schon Trainings zusammen – und fanden den kernigen Satz „offener Kanal – volles Potential“. In diesem Fall ist der offene Kanal ein von Absicht (aber auch Sorgen, Ängsten und Verspannungen) entleerter Körper. Hindurch fliesst die Intelligenz die unseren Frontallappen (in komplexen Kontexten) übertrifft.
Wenn ich ab und zu meiner kreativen Ader nachgehe – oft knete oder schnitze ich Figuren – dann gibt es Momente in denen „sich zeigt, was entstehen will“. Vielleicht mag das etwas zu esoterisch klingen. Ich habe jedoch noch keine Person, die kreativ arbeitet, dem widersprechen hören. Der Dialog mit dem „Material“ (denn dies können auch Menschen, Rhythmen, Umstände oder Stimmungen u.v.a.m. sein) zeigt Möglichkeiten auf und lässt man sich darauf ein, fliesst man in den Prozess hinein.
So ähnlich klingt es auch, wenn man sich Beschreibungen von Menschen über den Flow-Zustand anhört. Das Zeitgefühl schwindet, auch das Selbstgefühl oder „ich“, und die Aktivität fühlt sich mühelos an, der Zustand begeistert oder macht gar glückselig. Sportler oder Musiker „in der Zone“ berichten oft von Erfahrungen der Einheit mit dem Team, der Band, dem Publikum, dem Spiel. Nicht ganz nebensächlich: die Leistungen von Menschen im Flow sind nachweislich oft überragend.
Die Taoisten nennen dieses Prinzip „Wu Wei“ – zumindest scheint es grosse Ähnlichkeiten aufzuzeigen. Eine gängige Übersetzung lautet „Nichthandeln“. Laotse meint damit sicher nicht die totale Lethargie. Vielmehr sollen wir im Einklang mit dem ursprünglichen Wirkprinzip, dem Dao handeln. Sein viel umfassenderes Verständnis sieht gerade in den Wertefragen – individuellen und noch mehr so den politischen – eine ideologische Verkrampfung viel Unheil anrichten. Ähnliche Konzepte scheint es in diversen Traditionen zu geben. Nordamerikanische Indigene kennen ein Konzept, welches übersetzt in etwa „aufgeben / sich ergeben / hingeben“ lautet.
Von hier lässt sich leicht (die Beispiele hätten sicher weit mehr Raum verdient) zu einem letzten Beispiel springen: Theory U. Diese Methodik hat sich am MIT entwickelt und wurde durch Otto Scharmer einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Er nennt diese auch „von der Zukunft her führen“. Allerdings besteht der Kern der Methode (oder des Modells) gerade in einem möglichst tiefgehenden Vergegenwärtigen („presencing“). Auch hier besteht der Weg dahin, im Loslassen – der Vorstellungen, Abneigungen, Sichtweisen und Absichten. Mittels dieser Methode wurden wohl bereits tausende kollektive Entwicklungsprozesse geführt.
Mir scheint, all diese verschiedenen Erfahrungsbereiche, Modelle und Metaphern hätten ein Muster gemeinsam. Vielleicht ist dieses Muster universell und in jeglichen Situationen anwendbar. Und vielleicht ist es zumindest eine ideale Herangehensweise an Komplexität. Wie Dave Snowden mit seinem Cynefin Modell leicht verständlich macht, ergreift mensch sinnvollerweise unterschiedliche Strategien in unterschiedlichen Kontexten. Ein Flugzeug zu bauen ist kompliziert, aber nicht komplex – und bedarf daher einer anderen Strategie als im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen oder einem Jazzensemble. (Ein Flugzeug ist auch nicht lebendig.)
Die Einladung in diesen Beispielen meine ich, ist, die Schönheit und das Vergnügen zu entdecken, sich auf die Komplexität und der damit einhergehenden Überforderung einzulassen – nicht zuletzt weil darin die Fülle unserer Lebendigkeit steckt. Und vielleicht ist das genau was wir brauchen. Oder in den Worten von Howard Thurman:
„Frag nicht, was die Welt braucht. Frag, was du brauchst, um lebendig zu werden – und tu es. Denn die Welt braucht Menschen, die lebendig sind.»
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