Über die Möglichkeit einer ungewohnten Sparsamkeit
Kaum jemand hat sich wohl in den letzten Wochen den tragischen Ereignissen in der Ukraine entziehen können. Die Zeitungen, Nachrichtenformate, Sozialen Medien sind voll mit Beiträgen, Einschätzungen, Szenarien und Prognosen. Nach solideren Hintergrundinformation sucht mensch vielleicht etwas länger, doch auch hiervon gibt es in Hülle und Fülle. Ein erstaunliches Phänomen dabei ist, dass anscheinend viele innert kürzester Zeit von Pandemie-Expert*innen zu Expert*innen der Geopolitik geworden sind. Zumindest in den Kommentaren wimmelt es an Meinungen.
Wozu brauchen wir eigentlich all diese Meinungen?
Auf diese Frage gibt es wohl keine einfache Antwort. Tasten wir uns heran. Wir können wohl zu etwa allem eine Meinung haben und es scheint beinahe jede erdenkliche Meinung zu etwa allem zu geben. Wir wollen hier nicht wirklich das ganze Spektrum berücksichtigen – ohne klare Linie zu ziehen, soll der Fokus hier auf Themen von hoher Relevanz im öffentlichen Raum gerichtet sein.
Aber was ist das eigentlich, eine Meinung?
Wo würden wir sagen, dies sei nun keine Meinung? „Das ist nicht meine Meinung, das ist ein Fakt!“ – so sprechen wir manchmal. Meinen wir damit, dass das Benennen von Tatsachen, von Fakten keine Meinung darstellt? Aber tun wir denn nicht meist so, als sei Tatsache, was wir meinen? Worin liegt der Unterschied wenn ich sage „ich meine es ist so …“ zu „es ist so …“? Das zweite ist eine Behauptung. Ersteres ist doch eine Meinung, oder? Also eine Einschätzung, eine Vermutung. In etwa so verortet bereits Plato die Meinung: zwischen Ignoranz und Wissen – im besten Fall auf dem Weg vom einen zum anderen. Und Kant meinte (!) hierzu, eine Meinung sei bewusst nicht hinreichend; weder subjektiv noch objektiv.
Das ergibt ein schönes Bild, nicht? All diese Meinungen entspringen unserer intrinsischen Neugier und Wissbegierde. Demütig wie wir sind, äußern wir mit größter Vorsicht, was wir zu wissen glauben, in der Hoffnung eines besseren belehrt zu werden. Etwas zu schön um wahr zu sein! Auf jeden Fall gelangt mensch bei der Durchsicht von Kommentaren nicht unmittelbar zu diesem Eindruck. Vielleicht könnte dies aber ein Ansporn sein?
Nicht umsonst legen wir – zumindest in unserem Kulturkreis – viel Wert darauf, sich eine Meinung zu bilden. Sich eine Meinung zu bilden, heißt nicht zwingend, noch keine zu haben – auch wenn dies wohl oft hilfreicher wäre. Sich eine Meinung zu bilden heißt vielmehr, eine differenzierte, wohlbegründete Meinung. Diese bilden wir – es klingt zurecht nach Arbeit – nicht durch bloße Anhäufung von Wissen, sondern durch Integration. Eine Menge an Wissen fließt zusammen und lässt uns, im spezifischen Kontext angewandt, zu einer Meinung gelangen. Sicher aber heißt es, Fragen zu stellen, sich seiner Annahmen bewusst zu werden, zu wissen, worauf unsere Meinung basiert. Nicht nur eine Perspektive, sondern eine reflektierte Perspektive.
Also sehen wir daher derart viele Meinungen? Weil wir gemeinsam die Ursachen, das „eigentliche Problem“ und was wir tun sollten erkunden? Auch dies scheint zu kurz zu greifen. Sicher dürfen wir vieles, was in den Sozialen Medien und den Kommentarspalten abgeht großzügig diesem Bestreben zuordnen – sei es noch so tollpatschig oder obskur. Aber diese Beschreibung passt nicht recht zur Realität.
Mit dem Risiko in die Küchenpsychologie abzurutschen – uns fehlt noch überzeugendere Einsicht in die „wahren“ Motive der Meinungsexplosion. Ein Hinweis könnte die Feststellung sein, dass uns wichtig ist, eine eigene Meinung zu haben. Kennen wir nicht alle den Drang einfach zu widersprechen, sobald die Meinungen zu homogen werden? (Und natürlich widersprechen wir gewissen Personen einfach aus Prinzip.) Sind wir persönlich derart interessiert an Meinungsvielfalt? Oder freuen wir uns einfach über dieses hochehrwürdige Recht auf Meinungsfreiheit? Vielleicht ist es vielmehr ein Emblem, eine Fahne oder ein Signal? „Schau mal, welch schöner, starker, krasser Meinung ich bin!“ oder „ich gehöre zu denen“. Tatsächlich geben wir ja mit unseren Meinungen einiges von uns Preis und gesellen uns in vielen Kontexten auch in spezifische Reihen. Sind also Meinungen auch Ausdruck von Identität und Zugehörigkeit?
Ein Ort wunderbarer, ambivalenter Spannung. Wir wollen selber denkende sein. Wir bilden uns unsere eigene Meinung – und doch so klar: je nach Meinung werden wir sehr rasch einer Gruppe zugeordnet; entsprechend angefeindet oder gefeiert. Natürlich glauben wir alle, selbst nicht durch diese Dynamik beeinflusst zu sein – so wie auch niemand für all die vielen anderen Denkfehler (kognitive biases) anfällig ist. Beeinflusst davon werden nur die anderen, das ist klar. Das ist natürlich Quatsch. Schön wärs. Denn dann gäbe es weder Werbung noch Propaganda, weder Fake News noch Troll Farmen, noch Lobbyist*innen – vielleicht nicht mal Politiker*innen.
Dass es diese Institutionen aber gibt – die ganzen Heerscharen, welche unsere Meinung beeinflussen wollen – zeigt doch wie wichtig dieses drollige Gut zu sein scheint. So viel Macht ist verknüpft mit Meinungen. Was wird nicht alles getrieben von Meinung. Was wird nicht alles betrieben, um Zugriff auf Meinung zu erhalten! Uns mag diese Potenz zuweilen kaum sichtbar sein – so wie sie kaum sichtbar den weitaus größten finanziellen Wert unserer Gesellschaft ausmacht. Nein? Mensch sehe sich nur mal genauer an, was „Derivate“ im wesentlichen sind – richtig: Meinungen.
Handlungen gestalten die Welt. Also was tragen schon Meinungen bei? Betrachten wir sie als Teil des Denkprozesses und diesen als ein Mittel, um Handlungen vorzubereiten, zu planen und auszuführen, steht ihnen ein durchaus pragmatischer Wert zu. Kontrastieren wir diese Perspektive mit der wunderbar überspitzten Formulierung des Psychologen Giulio Cesare Giacobbes: alles Denken, welches nicht der Handlung diene, sei überflüssige Hirnwichserei (tatsächlich Teil eines Buchtitels). Letztere Position ist wohl nicht nur für den Philosophen etwas harsch; nehmen wir sie als Inspiration. Im Feld der kollektiven Vorbereitung von Handlungen mag es ja auch nicht immer offensichtlich sein, welche Aussagen – und damit Meinungen – auf welchen Wegen zu koordinierten Handlungen werden. Allerdings würde uns wohl ein etwas vorsichtigerer, langsamerer und sparsamerer Umgang mit Meinungen nicht schaden. Meine Meinung.
Nein, damit bin ich zu keiner einfachen, klaren Antwort gelangt. Meine Meinungsbildung zu Meinungen ist nicht abgeschlossen. Dafür noch eine letzte Inspiration. Ein poetischer Ausdruck aus indigener Tradition: die ersten Menschen hatten Fragen – und waren frei. Die zweiten Menschen hatten Antworten – und wurden deren Sklaven.
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