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Objektiv gesehen

«Objektiv gesehen» sagen wir manchmal so – oder «aus objektiver Perspektive». Nun ist aber eine solche Perspektive gerade dadurch charakterisiert, dass sie eigentlich keine ist. Weder von hier, noch da – schon eher von überall oder halt «von nirgendwo» wie Thomas Nagel diese «Perspektive» nannte. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich von allen möglichen subjektiven Perspektiven loslöst.

Uns scheint es oft intuitiv einleuchtend, dass es eine solche Perspektive gibt. Wir halten sie in gewisser Weise für gleichbedeutend wie «in Realität», die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Für Philosophen ist das ein gefundenes Fressen, ein reichhaltiges Buffet an «grossen» Fragen. Wie wärs, wenn wir uns einfach mal die Mühe machen und versuchen, diese Perspektive einzunehmen?


René Magritte, La Décalcomanie


Also, wir wollen die Realität sehen, wie sie ist. Was sehen wir?

Beginnen wir einmal hier – bei der Metapher «Sehen»: das menschliche Auge sieht einen winzigen Ausschnitt im Spektrum der Wellenlängen. Sehen wir die Dinge objektiv, ist diese Einschränkung natürlich weg. Jetzt sehen wir alle Frequenzen von Licht, überhaupt all die Wellen die da rumschwirren, wir sehen nicht bloss Ultraviolett, sondern durchs ganze Spektrum, von der hochfrequenten Kosmischen Strahlung, Gamma und Röntgen oder Mikrowellen bis zu langwelligen Radio und Fernseh-Übertragungen. Wir sehen auch Botenstoffe in der Luft, thermische Verwirbelungen und natürlich durch die Dinge hindurch.  

Das ist nicht die einzige Einschränkung die nun verschwunden ist. Jegliche Grössenordnungen sind nun zugänglich. Wir sehen bis in die kleinsten Details, wir sehen Atomkerne, Quarks und Quanten, wir sehen DNS-Moleküle, massenhaft Kleinstlebewesen – aber auch Galaxien, schwarze Löcher und deren Gravitationsfelder, supergigantische Sterne, 1500 mal grösser als unsere Sonne – ja das ganze Universum.

Dass ist alles noch statisch. Doch nun sehen wir Zeit; wir sehen wie Dinge entstehen und vergehen, wir können vor- und zurückspulen. Wir sehen den Urknall, wie sich die ersten Atome gebildet haben, Gaswolken zu Sonnen formten, sich ihre Planeten anzogen, Galaxien formierten. Und wir sehen wie – zumindest auf einem der Planeten – Leben entstand. Ganze Reihen von Geschöpfen durch welche eine DNS-Schlange schlingt. Wie die Äste eines Baumes mit tausenden von Blüten, diverseste Wesen bilden. Wir sehen diese Wesen wuseln, wachsen, fressen, kopulieren, sterben – Millionen davon; über Millionen von Jahren. Und dies in einer ständig wechselnden Landschaft, herumdriftenden Kontinenten, Berge stossen empor und zerbröckeln wieder, karge Steinwüsten werden zu Wäldern – und kurz später ist hier ein Ozean.

Diese Vorstellung ist allerdings nur eine Krücke, ein etwas zugänglicherer Ersatz für das, was wir wirklich erleben würden. Denn die objektive Perspektive kennt kein Hier und Jetzt. Wir sind also überall und zu jeder Zeit.  Wir sind allgegenwärtig - oder eben nirgendwo. Wir sind nicht irgendwo und schauen zu. Es gibt nur bedingt ein zuvor und danach. Was diese Ereignisse in gewisser Weise ordnet sind kausale Zusammenhänge. Diese, für uns meist unsichtbaren Verbindung, sind, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wie ein Mycelium, oder noch eher wie eine dichte Masse verbinden Ursache-Wirkungsbeziehungen all die Ereignisse. Nichts was geschieht ist ohne Ursache – und nichts bleibt ohne Wirkung. Das trifft über weite Distanzen, Zeithorizonte und Grössenordnungen zu; wie ein vieldimensionales vibrierendes Muster von Regentropfen auf der Wasseroberfläche.  

Bereits dies ist eine durchaus deftige Dehnübung für unsere Vorstellungskraft. Haben wir bei diesem Versuch in die «objektive Perspektive» zu tauchen noch etwas vergessen? Ganz klar – oder auch nicht: wo sind denn gerade all die Vorstellungen? Wo sind die subjektiven Perspektiven, all die Erlebnisse? Gehören die auch zur objektiven Perspektive? Sind diese auch Teil der Realität? Es geht nicht darum, ob irgendeine Wahrnehmung der Realität, diese so sieht, wie sie ist. Es geht darum, ob Wahrnehmungen Realität sind. Descartes berühmtes Argument «cogito ergo sum» können wir auch so auslegen. Statt «Ich nehme wahr, also existiere ich.» finden wir: da ist eine Wahrnehmung, ein Empfinden – also existiert dieses Empfinden. Das scheint leider arg zirkulär. Die Wahrnehmung ist subjektiv. Gibt es objektiv gesehen subjektive Perspektiven? Wir treiben in den philosophischen Sumpf.

Nehmen wir pragmatisch einfach an, dass es sie gibt. Das erscheint mir einleuchtender als das Gegenteil. Also «sehen» wir nun auch alle subjektiven Perspektiven in unserem Vorstellungsexperiment aus objektiver Perspektive. Wir sehen alle Empfindungen, Emotionen, Schmerzen, Freuden, Absichten. Spielen wir so weiter, sehen wir noch wilderes Zeug. Wir sehen Bedeutungen, Referenzen, Geschichten, kulturelle Verweise. Wir sehen was manche als Noosphäre bezeichnen, den Raum aller denkbarer Gedanken. Zudem sind hier auch alle mehr-als-menschlichen Perspektiven – ganze Dimensionen des Erlebens und der Handlungsfähigkeit.

Wir haben nun so etwas wie eine Vorstellung – eigentlich eher einige Indizien dazu – wie die Welt aus objektiver Perspektive aussehen würde. Dabei sollte klar geworden sein: diese objektive Perspektive gibt es nicht. Das ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass es keine objektive Realität gäbe. Es ist eine epistemische Aussage bzw. präziser eine phänomenologische. Allenfalls könnten wir wissenschaftlich die Wirklichkeit vollständig erkennen und somit so etwas wie totale Erkenntnis erlangen. Darüber wollen wir uns hier nicht streiten. Was ich hier behaupte: selbst wenn, dann wäre dies keine Perspektive, keine Sichtweise, welche wir einnehmen könnten – die überhaupt irgend ein Wesen einnehmen könnte. Wenn, dann wäre sie das Erleben eines gottgleichen, absoluten Geschöpfs. Es gibt keine Perspektive, kein Erleben von nirgendwo.

Und in etwa derart überhöht sollten Aussagen wie «objektiv gesehen» auch behandelt werden. Mit dieser Erkenntnis kommt ein Aufruf zu epistemischer Demut, eine Einladung uns gewahr zu werden, wie unglaublich viel wir nicht wissen und nicht in unsere Überlegungen einbeziehen können. Und wie überwältigend, unfassbar und mysteriös die Realität doch ist – die wir subjektiv erleben dürfen und nur als Subjekt, aus subjektiver Perspektive erleben können. Diese Erkenntnis könnte auch dabei helfen, von der Vorstellung loszulassen, wir könnten Realität aus geschützter Ferne analysieren und kontrollieren. Wir sind auch im Erkennen zutiefst mit der Welt verwoben.

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